film still [TUNIS], 2018

2020
Andreas Altenhoff
on documentary experimental film [TUNIS]

[EN]

Words in film: a translation

If you just translate it literally
it really loses so much of its power.

Four young people – Abir Akriche-Jendoubi, Ferdaous Kabteni, Kais Jendoubi and Majed Mihoub – are sitting together, concentrated on a few sheets of paper lying in the middle. They are working on a translation of the poem “[Tunis]”, supported by Walid Ben Nasr, the “telephone joker” in Tunis. They do not seem to know the author Adrian Kasnitz personally, when they speak of him, they only use the pronoun (“he”), however, they have been working on the twelve lines of his text for three hours. Their meeting will continue for even more hours.

“[TUNIS]” – using capital letters indicate the change of media; artistic and cinematic productions like to be written in capitals – gives an idea of how long and how intensively the four of them will be engaged in their task, due to numerous fade-outs. In the end there will be three texts, a poem, a translation and the reverse translation of the first one, which has taken the liberty to rewrite the poem. And the film.

At first glance this film comes across as a documentary about the technique of translation. However, all four of them are not professionals; the film director has asked them to deal with this text, invited them to an experiment which is about exchange, appropriation, the familiar and the unknown – similar to Lia Sáile’s art project “Between the Lights”, in which she had two street lamps from the twin cities Tunis and Cologne exchanged in 2018 and implanted in a new, complementary environment.

That there is more to “[TUNIS]” than just the reproduction of a work process, is also shown by the cinematic means. Fading out makes us aware that the transformation of the poem took far longer than the filmic time in which it was told. The hand-held camera (Katja Rivas Pinzon) circles around the translators just like their reflections hover over the text. Rarely does it move away, remaining focused on faces and hands in close-ups, constantly directing the eye to the notes as if it wanted to make the group hurry. It remains uncertain whether the room has an extension and how it is furnished. Light gray and yellow sofa cushions appear briefly at the picture’s edge; the four people are wearing t-shirts in similar, equally light colours. At the end, two panning shots sweep over glasses, white cups, written papers, a dictionary.

This stylization brings the in-between world of poetic production to light. The text of “[Tunis]” is recited in sections and thus appears as a recitation in the film. Although written in a language familiar to them, it remains obscure to the translators – like any poem would that requires an interpretive effort. Paradoxically, they are familiar with the subject matter, which the author shifts into the distance. During the appropriation of the poem an exchange takes place. The account of an unknown place moves away from the familiar language and returns from a foreign language, modified, yet familiar.

“[TUNIS]” shows what would remain invisible in the result of its translation: the experience of “Fremdsprechen (foreign-speaking)” (E. Kinsky) as well as the decision to deviate from the initial exercise and to set the text, to be interpreted, against its own, quite random context, to address translation itself, the crossing over the sea – that mare nostrum that has always belonged to “us” and always brings “them” their downfall. It’s only through the film that this breach of fidelity to the text is legitimized. In its polyphony, it preserves the original as well as the variation by creating a further translation, namely from reading and speaking to seeing and hearing, from the timeless existence of the text into the temporal extension of image sequences.

Different media follow different principles, but they can relate to each other and be translated to a different level: this is another way in which the formula “poetry/film” wishes to be understood.

published in: «poetry/film»: Gedichte – Filme – Resonanzen (edition KHM)

[DE]

Worte im Film: eine Übersetzung

Wenn du’s einfach nur wörtlich übersetzt,
verliert das voll viel an Kraft.

Vier junge Leute – Abir Akriche-Jendoubi, Ferdaous Kabteni, Kais Jendoubi und Majed Mihoub – sitzen zusammen, konzentriert auf ein paar Blätter Papier in ihrer Mitte. Sie arbeiten gemeinsam an einer Übersetzung des Gedichts „[Tunis]“, unterstützt durch Walid Ben Nasr, den „Telefonjoker“ in Tunis. Sie kennen den Autor Adrian Kasnitz anscheinend nicht persönlich, sprechen von ihm nur mit dem Pronomen („er“), aber sie haben sich schon seit drei Stunden mit den zwölf Zeilen seines Texts beschäftigt. Das Treffen wird weitere Stunden dauern.

„[TUNIS]“ – die Versalien zeigen den Medienwechsel an; künstlerische und filmische Produktionen stehen gern in Großbuchstaben – lässt durch zahlreiche Abblenden ahnen, wie lange und wie intensiv die vier sich noch mit ihrer Aufgabe beschäftigen. Am Ende wird es drei Texte geben, ein Gedicht, eine Übersetzung sowie die Rück-Übersetzung der Übersetzung, die sich die Freiheit genommen hat, das Gedicht umzuschreiben. Und einen Film.

Dieser Film mutet bei flüchtigem Hinsehen an wie eine Dokumentation, in der es um das Handwerk des Übersetzens geht. Allerdings sind die vier nicht vom Fach; die Regisseurin hat sie gebeten, sich mit dem Text zu beschäftigen, sie zu einem Experiment eingeladen, bei dem es um Austausch, Aneignung, das Vertraute und das Fremde geht – ähnlich wie bei Lia Sáiles Kunstprojekt „Zwischen den Lichtern“, bei dem sie 2018 zwei Straßenlaternen aus den Partnerstädten Tunis und Köln hat austauschen und in ein neues, komplementäres Umfeld einpflanzen lassen.

Dass es in „[TUNIS]“ jedoch um mehr geht als um die Wiedergabe eines Arbeitsvorgangs, zeigen auch die filmischen Mittel. Abblenden machen bewusst, dass die Umformung des Gedichts weit über die erzählte Zeit hinaus gedauert hat. Die Handkamera (Katja Rivas Pinzon) kreist um die Übersetzer*innen wie deren Überlegungen um den Text. Selten entfernt sie sich, bleibt bei Nahaufnahmen auf Gesichter und Hände gerichtet, lenkt den Blick immer wieder auf die Notizen, als wolle sie die Gruppe zur Eile antreiben. Es bleibt im Ungewissen, ob der Raum eine Ausdehnung hat, wie er eingerichtet sein könnte. Hellgraue und gelbe Sofapolster erscheinen kurz am Bildrand; die vier Personen tragen T-Shirts in ähnlichen, ebenfalls hellen Farben. Am Schluss streichen zwei Schwenks über Gläser, weiße Tassen, beschriebene Papiere, ein Wörterbuch.

Diese Stilisierung bringt die Zwischenwelt des poetischen Produzierens zum Vorschein. Der Text von „[Tunis]“ wird abschnittweise vorgetragen und erscheint so als Rezitation im Film. Obwohl in einer ihnen geläufigen Sprache verfasst, bleibt er den Übersetzer*innen zunächst fremd – wie wohl jedes Gedicht, das eine interpretatorische Anstrengung verlangt. Paradoxerweise ist ihnen der Gegenstand vertraut, den der Autor in die Ferne verlegt. Während der Aneignung des Gedichts vollzieht sich ein Tausch. Die Kunde von einem fremden Ort entfernt sich aus der vertrauten Sprache und kehrt aus einer fremden Sprache abgewandelt, aber vertraut zurück.

„[TUNIS]“ zeigt, was im Ergebnis der Übersetzung unsichtbar bliebe: die Erfahrung des „Fremdsprechens“ (E. Kinsky) wie auch die Entscheidung, von der ursprünglichen Aufgabe abzuweichen und dem zu deutenden Text eine durchaus willkürliche eigene Setzung entgegenzustellen, das Übersetzen zu thematisieren, die Überfahrt über das Meer – jenes mare nostrum, das seit jeher „uns“ gehört und „denen“ immer nur Verderben bringt. Erst der Film legitimiert diesen Verstoß gegen die Texttreue. Er bewahrt in der Vielstimmigkeit das Original wie die Abwandlung, indem er eine weitere Übersetzung vornimmt, nämlich die aus dem Lesen und Sprechen ins Sehen und Hören, aus dem zeitlosen Vorhandensein des Texts in die zeitliche Ausdehnung der Bildfolge.

Unterschiedliche Medien folgen unterschiedlichen Gesetzen, können aber miteinander in Beziehung treten und auf eine andere Ebene übersetzt werden: auch in diesem Sinn möchte die Formel «poetry/film» verstanden werden.

veröffentlicht in: «poetry/film»: Gedichte – Filme – Resonanzen (edition KHM)